Generation Game - die Spielifizierung des Alltags
Generation Game - die Spielifizierung des Alltags
Blogbeitrag vom
Eine Fußgängerampel irgendwo im beschaulichen Hildesheim. Etwa auf Hüfthöhe der Ampel, also dort, wo man sonst grün anfordert, befindet sich ein kleines Display, nicht viel größer als ein großes Smartphone. Die Ampel springt auf rot.
Auf dem Display erscheint ein Pong-Spielfeld, das viele sicher noch aus der Anfangszeit der Videospiele kennen. Ein Ball rollt von einer Seite zur anderen und muss von einem kleinen Balken, den jeweils ein Spieler steuert, zurückgespielt werden. Wer den Ball durchlässt, hat einen Punkt verloren. An der Hildesheimer Ampel genügt nun ein kurzer Blick auf die andere Straßenseite, ob ein potentieller Mitspieler ebenfalls auf grün wartet. Dann kann es losgehen: Mit dem Finger wird der kleine Balken gesteuert und der Ball zwischen den Wartenden auf beiden Seiten hin- und her gespielt. Im Hintergrund zeigt eine Statusanzeige an, wie lange die Rotphase noch dauert. Wird die Ampel grün, ist das Spiel vorbei. Die Wartezeit wurde verkürzt, die Versuchung, über rot zu gehen, reduziert und man hat auf unkomplizierte Weise Kontakt zu einem wildfremden Menschen aufgenommen. (Wie das aussieht, seht ihr hier im Video)
Genau das ist gemeint, wenn von der Gamifizierung oder Spielifizierung des Alltags gesprochen wird.
Gaming ist keine Randerscheinung mehr
Lutz Woellert vom u-institut für unternehmerisches Denken und Handeln e.V. aus Berlin ist ein leidenschaftlicher Vertreter solcher Methoden. Seiner Meinung nach wird das Potenzial digitaler Spiele vollkommen unterschätzt, Spiele und Spielende nicht ernst genommen. Viele haben immer noch das Bild des blassen Jungen im Kopf, der einsam im Keller sitzt und aus Frust stundenlang Ballerspiele spielt. Dabei spielen inzwischen fast 30 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig digitale Spiele, davon nahezu die Hälfte Frauen. Jeder fünfte Spieler, jede fünfte Spielerin ist über 50. Und auch wenn männliche Jugendliche die größte Gruppe darstellen, ist das digitale Spielen kein Jugendphänomen und keine Randerscheinung mehr. Grund dafür ist die rasante Verbreitung von Smartphones und Computern.
"Zu glauben, dass dieser Wandel nicht zwangsweise auch das Kommunikationsverhalten im Alltag und im Geschäftsleben verändern wird, wäre absurd", meint Woellert[1].
Über die Gefahren übermäßiger Computerspielnutzung, über Ballerspiele und deren Folgen für die Entwicklung wird reichlich debattiert. Viel zu wenig Raum nimmt jedoch die Debatte darüber ein, welche positiven Effekte gute Spiele haben können. Dieser Ansatz ähnelt dem von Seitenstark e.V., dem Netzwerk sicherer Kinderinternetseiten: Anstatt sich über zu kommerzielle, zu gefährliche, zu geschlechterstereotype Internetangebote für Kinder zu beklagen, ist hier ein neues, kleines, aber sehr feines Netzwerk aus Kinderinternetseiten entstanden, die versuchen, mit teilweise sehr spezialisierten Themen, wenig Budget, aber großem Engagement und Kreativität das Angebot zu erweitern.
Doch auch die im Seitenstark-Netzwerk versammelten Seiten könnten sicher noch mutiger sein und sich auf neue, innovative Konzepte einlassen. Gedanken über die Gameifizierung des Alltags können dazu Anregung geben. Wie kann ich Angebote auf meiner Internetseite und das Spielen im öffentlichen Raum verbinden? Auf www.radiofuechse.de kann man sich z.B. eine Audiorallye herunterladen, mit der man im Hamburger Stadtteil St. Pauli kleine Geräuscherätsel lösen und dazu Orte finden muss. Noch einfacher würde das mit einer Smartphone-App und QR-Codes funktionieren, die an den jeweiligen Orten z.B. an einer Fensterscheibe kleben. Das Ganze wäre - ein entsprechendes Budget vorausgesetzt - sicher noch ausbaufähig[2].
Spielen! An der Ampel, im Zug, beim Zähneputzen...
Die Ideen für interaktive Spiele, die reale und virtuelle Welten verbinden, scheinen den Spieleentwicklerinnen und -entwicklern nicht auszugehen. Die Firma "Die Hobrechts" zum Beispiel verschreibt sich ganz dem Game Thinking: "Wir wenden unser Wissen und unsere Erfahrungen aus der Spieleentwicklung auf nicht spielerische Produkte und Services an", heißt es auf ihrer Homepage. Immer, wenn Mitarbeiter und Spieleentwickler Christoph Brosius irgendwo im öffentlichen Raum eine Fensterscheibe sieht, sieht er eigentlich einen Bildschirm und überlegt sich, was man damit so machen könnte. Bei der Bahn z.B. könnte man Augmented Reality (Erweiterte Realität) nutzen, um an den Fensterscheiben des Zuges mit dem Finger einen virtuellen Ballon durch die real im Hintergrund vorbeiziehende Landschaft zu bewegen. Oder man erhält auf dem Fenster/ Bildschirm oder auch auf seinem Smartphone zusätzliche Informationen zu Gebäuden, Landschaften und Orten auf der Scheibe, an denen man gerade vorbeifährt. Ganz nebenbei kann eine langweilige Zugfahrt so zur spannenden Bildungsreise werden.
Alle gemeinhin als eher langweilig verbundenen Tätigkeiten könnten so "spielifiziert" werden. Warum nicht beim Zähneputzen Punkte sammeln? Erst wenn alle Zähne gründlich mit der elektrischen Zahnbürste Kolibree geputzt wurden, wird der Highscore bei einem kleinen Handyspiel erreicht. Familienmitglieder können sogar im Kampf um saubere Zähne gegeneinander antreten!
Auch die Firma Urbn pockets aus Berlin hat sich die Entwicklung von sinnvollen und lehrreichen Apps für jüngere Kinder vorgenommen. Die Reihe "This is my... body/ car/ weather/ food" etc. soll Kindern Spaß machen und gleichzeitig Lerninhalte vermitteln. Neben der digitalen Welt wird auch hier die reale Welt mit eingebunden. Bei "This is my food" können z.B. reale Kräuter gesät und der Wachstumsprozess in der App dokumentiert werden.
Und die Firma Causa Creations erweitert Bilderbücher für Kinder um virtuelle Realitäten: Stellt man ein Tablet vor das Bild einer Katze im Buch, tritt sie auf dem Tablet plötzlich aus dem Bild heraus, bewegt sich und und miaut.
"Wir wuchsen darüber zusammen, dass wir uns gegenseitig über den Haufen schossen."
Doch es geht nicht nur um pädagogisch wertvolle, inhaltsreiche Spiele und Angebote für Kinder und Jugendliche. Es geht auch darum anzuerkennen, dass Kinder beim zeitintensiven Spielen am Computer nicht zwangsläufig vereinsamen oder verrohen. "Wir wuchsen darüber zusammen, dass wir uns gegenseitig über den Haufen schossen", schreibt Jan Fischer in seinem Buch "Ready - wie ich mit digitalen Spielen erwachsen wurde" über seine Zeit als heranwachsender Junge. Spielen schafft gemeinsame, positive Erlebnisse, Spielen schweißt zusammen, Spielen macht gute Laune. Fischer beschreibt seine Zeit mit digitalen Spielen als "temporäre Blasen", in denen er und seine Freunde tun und lassen konnten, was sie wollten. Sie fühlten sich unabhängig in diesem einzigen kontrollierbaren Raum ihres komplexen, pubertären Alltagslebens.
Dass Spiele - reale und digitale - tief in unseren Alltag eindringen, ihn bereichern und entlasten können, uns mit Menschen zusammen bringen und sogar Krankheiten vorbeugen können, ist viel mehr als ein verspielter und charmanter Gedanke. Spiele - digital oder analog, virtuell oder real - sind kulturelle Praktiken und verdienen dieselbe Anerkennung wie z.B. Filme, Bücher und Theater.
[1] Lutz Woellert: Generation Game - Reden wir endlich über Spiele, Hrsg: Kompetenzzentrum Kultur und Kreativwirtschaft des Bundes, Initiatie Kultur- & Kreativwirtschaft der Bundesregierung und u-institut für unternemerisches Denken und Handeln e.V.
[2] Mehr zum Einsatz von QR Codes und Augmented Reality gibt es auch hier im Wiki.